Ich weiß auf Anhieb nicht, ob es zu der Serie schon einen Thread gibt, aber hier ist mal ein IMO recht guter Artikel von mir, den ich kürzlich zum Thema Simpsons für das Retro-Printmagazin (und mein Blog) geschrieben habe.
Von gelben Männlein und dem social web der 90er
Bei der letzten Kolumne hatte ich im Einleitungssatz kurz die beliebte TV-Serie "Die Simpsons" genannt, nur um dann schnell auf das Thema VHS-Kassetten und "analogen Sperrmüll" überzuleiten. Für diese Ausgabe dachte ich mir nun, daß die Simpsons und ihre Entwicklung von den Anfängen als eigenständige Serie 1989 bis heute durchaus eine eigene Betrachtung verdienen. Wie von mir gewohnt, wird diese Betrachtung natürlich gegenüber dem 21. Jahrhundert nicht allzu positiv ausfallen. Der Leser mag sich nun trotzdem dezent fragen, was eine gelbe Trickserie mit Zeitgeistfragen und vor allem mit digitalem Retro zu tun hat. Eigentlich eine ganze Menge, speziell auch zum Thema digitaler Kommunikation vor dem glorreichen Web 2.0. Dazu später mehr.
Die Simpsons begannen ihre Existenz als eigenständige Serie im Dezember 1989, nachdem die Figuren ab 1987 bereits in schrägen Kurzfilmen aufgetreten waren. Waren diese hauptsächlich auf geradlingen Humor aus, so entwickelte sich die Serie während der ersten Jahre in den frühen 90ern in eine andere und sehr ungewöhnliche Richtung: aus den gelben Strichfiguren wurden plötzlich realer wirkende Charaktere mit Tiefgang. Man könnte diese Entwicklung vielleicht mit dem vergleichen, was Carl Barks seinerzeit mit den Disney-Enten gemacht hatte: er hatte slapstickige Comedy-Enten genommen und nachvollziehbare "Menschen" aus ihnen gemacht. Charaktere mit Emotionen und Motivationen, "inner being", teilweise stereotyp, aber stets auch fähig, über sich selbst und ihre Rolle hinauszuwachsen. Wer Duck-Klassiker von Barks wie die "Nordpolfahrt" oder den "Goldenen Helm" gelesen hat, kann das Argument sicher nachvollziehen.
Ähnlich geschah es seinerzeit mit den Simpsons, die ihre Wurzeln als Chaoten in Reinkultur gerade während Staffel 2 (1990/1991) deutlich hinter sich ließen und dem Primetime-Cartoon neue Impulse gaben. "To explore the inner being" von gelben Trickfiguren wurde plötzlich salonfähig und die Macher der ersten Jahre scheuten auch vor den Charakterentwicklungen nicht zurück. Eine berühmte "ernste" Story aus den frühen Jahren dürfte "Der Aushilfslehrer"/"Lisa´s Substitute" sein - in der Originalversion übrigens mit Dustin Hofmann als Mr. Bergstrom. Falls jemand diese frühen Folgen nicht oder kaum mehr kennt, ist das übrigens kein großes Wunder, denn der deutsche Seriensender Pro 7 hat sich entschlossen, die ersten drei Simpsons-Staffeln nicht mehr zu senden, da sich viele Zuschauer durch den älteren Stil "irritiert" fühlten. Ein Schelm, wer denkt, daß sich eventuell auch Werbekunden von den quotenschwächeren Uraltfolgen gestört fühlten.
Natürlich war die Serie in ihren ersten Jahren noch weit mehr, als nur das Experiment, schrägen Trickfiguren Eigenschaften wie Sympathie und Empathie für andere zu geben. Es war ein Schatz brillanten und oft subtilen Humors - und von zahlreichen Zitaten aus der Filmgeschichte, der Literatur, der Americana und vielem mehr. Sicherlich kam auch die Satire nicht zu kurz, selbst wenn diese in ihrem Spott und den dunkleren Untertönen in den frühen Jahren oft weit subtiler blieb, als in späteren Zeiten. Es war eine Serie über all die Probleme der Welt und über die Schwierigkeiten des Individuums darin, es war aber unter Schichten von Sarkasmus stets auch eine Serie über das Gute im Menschen. Zu dem Thema sei gerne das gelungene Buch "Subversion zur Primetime" empfohlen, daß sich detailliert mit derartigen Fragen der Serie beschäftigt.
Irgendwann gingen aber viele der besonderen Eigenschaften der Simpsons meiner Ansicht nach mehr und mehr verloren. Die Charaktere, die einstmals Tiefgang hatten, wurden zusehends zu Stichwortgebern für popkulturelle Gags, Satire und Referenzen wurden immer "dicker" unterstrichen und Stories immer formelhafter. Auch ernstere Inhalte oder gar Respekt für die Charaktere wurden mehr und mehr der direkten Unterhaltung untergeordnet und Folgen mit Humor überfrachtet. Heute haben wir eine hübsch bunte Serie mit Digitalkolorierung und inzwischen auch HD-Bildqualität, aber von der vielfältigen Klasse der ersten Jahre ist dieses moderne, gelbe Produkt nun leider meilenweit entfernt. Früher waren Episoden vielleicht "schlecht gezeichnet" und auf den ersten Blick gar sitcomig, im Detail waren sie aber oft deutlich mehr, als die Summe ihrer Teile. Was dabei zählte, war einmal mehr, was das Medium und die einzelne Folge auch jenseits von perfekter Technik für den Zuschauer bedeuten kann.
So fanden sich denn gerade zum Ende der 90er Jahre viele Leute und Fans der ersten Stunde, die sich mit dem "neuen" Stil der Serie speziell ab Staffel 9 oder 10 nicht mehr wirklich identifizieren konnten. Die Charaktere wurden austauschbar und kritische Fans sahen nur noch "gelbe Männlein" als Ersatz für die einstigen Sympathieträger. Eine gute Anlaufstelle für Kritik an der Serie war seinerzeit jenes inzwischen veraltete Kommunikationsmedium namens Usenet, speziell die Newsgroup de.rec.tv.simpsons. Dort wurde mit Spaß über Qualität diskutiert, dort wurde aber auch aktiv gehandelt, z.B. mit eigenen Skripten zu Stories und mit Fansynchros, mit Kontaktaufnahmen mit Pro7 oder den Übersetzungsverantwortlichen (der inzwischen leider verstorbene Ivar Combrick war etwas berüchtigt für gewisse Stilblüten in der Synchronisation) und dem generellen Eintreten dafür, daß die Serie eine andere Behandlung verdient hat, als nur die eines Quotengaranten bzw. einer Trickserie für Kinder.
Mit einem Wort: im social web vor dem Web 2.0 steppte der Bär zur Serie. So hatte de.rec.tv.simpsons in den späten 90ern vierstellige Beitragszahlen pro Monat (man möge google-groups bemühen, wenn es denn ordentlich funktionieren würde). Die heutigen Zahlen sind etwa bei Null. Dafür ist zum Einen sicher die Qualität der Serie verantwortlich, denn irgenwann hatten zahlreiche Fans der ersten Stunde doch aufgegeben bzw. konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie als Freunde von uralten Folgen online auf immer einsamerem Posten standen. Wo einstmals Reviews und Skripte mit etlichen Seiten geschrieben wurden, ist der Simpsonsfan 2011 oft nur am schnellen Newsfeed mit Topinfos zum nächsten Gaststar oder dem Klick auf den "I like"-Button zur neuesten Folge interessiert. Aktuelle Webseiten zur Serie sind in der Regel Newsseiten aus der Retorte, bei denen jeder Betreiber damit wirbt, der beste und schnellste zu sein. Wo aber ist all die Vielschichtigkeit und der Ideenreichtum geblieben, der einstmals sowohl die Serie, als auch die Diskussion darüber im Usenet ausgemacht haben?
Im Frühjahr 2011 wurde dem deutsche Usenet übrigens noch ein deutlicher Hieb versetzt, als T-Online den eigenen Newsserver abgeschaltet hat. Anwender und Usenetter wurden 2 Tage vorher informiert, und relativ desinteressiert darauf hingewiesen, daß das Usenet nicht mehr zeitgemäß sei und man sich doch bitte auf Web 2.0 und Foren zu verlagern hätte.
Chris