Mario,
bereits vor vielen Jahren habe ich von Dir regelmäßig Dislikes bekommen, damals wegen der Länge meiner Posts, und die Dislikes kamen so schnell, dass Du gar keine Gelegenheit hattest, es vorher zu lesen. Also wem willst Du hier weismachen, Deine Respektlosigkeit sei eine Reaktion auf das, was ich hier inhaltlich schreibe? Inzwischen sind Deine Posts übrigens häufig länger als alles, was je von mir kam. Danach müsstest Du Dir konsequenterweise jetzt selbst ständig Dislikes geben.
Warum ich überhaupt auf das eingehe, was Du hier verbreitest? Weil es hier vielleicht Leute gibt, die das für bare Münze nehmen. Weil der Anschein erweckt wird, dass auf der einen Seite die stehen, die anti-woke sind, auf der anderen Seite aber nur Besserwisser, die genau dem Vorurteil entsprechen, die gar keine Chance lassen, sich einfach so aus einem Gefühl von Menschlichkeit heraus gegen Rassismus einzusetzen, weil sowas als "performative wokeness" abgetan wird und verlangt wird, dass man zusätzlich eine Ideologie übernimmt. Du machst es den Leuten schwerer, gegen Rassismus zu sein, ich will, dass es leichter wird.
Welchen Standpunkt vertritt Michael Brooks? Er beruft sich auf einen marxistischen Rahmen, die Welt zu verstehen.
"If you're on the left you will look at things and you say what are the historical material reasons why that is happening. If you're on the right you say that is what it is. Paradoxically this is actually the reason why right now is a lot of conflict between people who are more socialistic and people who are more like 'woke'."
In einer der Shows von Michael Brooks wurde das ungefähr so ausgeführt, dass es Rassismus immer irgendwie geben wird, weil Menschen für alles, was sie in ihrem Leben nicht erreichen, irgend jemandem die Schuld geben müssen. Die Rechten seien sehr geschickt darin, die Unzufriedenheit, die sich aus ökonomischer Ungleichheit ergibt, auszunutzen. Wenn man die ökonomische Ungleichheit beseitigt, würde man den Rechten und dem von ihnen geschürten Rassismus die Grundlage entziehen.
Klar, kann man versuchen. Aber es ist eben nur eine Position von vielen im linken Spektrum, die man einnehmen kann. Michael Brooks stellt das aber gegeneinander.
"In my view there's some project that might appear very 'woke' and 'progressive' that actually are quite conservative."
Zu jedem Satz, in dem Michael Brooks die Methoden der Rechten anprangert, fügt er einen weiteren Satz hinzu, dass die "Linken", die "Woken", zwar mit einer besseren Moral aber im Grunde genauso sind, weil sie nach dem gleichen Schema argumentieren, immer nur moralisch, dass es ist, was es ist.
"The right had answers and the 'left' had a lot of moralism and condemnation."
Und Michael Brooks sah sich als jemanden, der im Namen der Linken nun auch endlich Antworten gegeben hätte, mit denen man die Rechten hätte zurückdrängen können. Wenn er nicht gestorben wäre. Wenn Bernie Sanders Präsident geworden wäre...
Das grundsätzliche Problem beim Marxismus ist, dass der Anspruch einer wissenschaftlichen Wahrheit damit verbunden ist. Was dann immer wieder dazu führt, dass andere Meinungen nicht als gleichberechtigt anerkannt werden, es ist ja so, als würde man das Gesetz der Schwerkraft anzweifeln.
Marxisten haben ein großes Talent darin, soziale Probleme aufzugreifen und sich als deren Lösung anzubieten. Bis sie an die Macht kommen. Bei Michael Brooks wird das erkennbar an seiner Zuneigung zu linken Machthabern in Südamerika, die sich zwar wählen, aber nicht wieder abwählen lassen. Wie sich gerade wieder einmal bestätigt hat.
Was verstehe ich unter Cancel Culture? Es gab da einen Vorfall mit einem taz-Redakteur, der wurde 2013 bei einem Vortrag von einer Gruppe von Aktivisten niedergeschrien, weil er es gewagt hatte, aus einer Rede von Martin Luther King den Begriff "negro" historisch korrekt mit "Neger" zu übersetzen, statt es mit "N-Wort" zu umschreiben. Inzwischen wird das Konstrukt "N-Wort" durchgehend im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen und von Tageszeitungen einschließlich der taz verwendet. Hat der Aufruhr also etwas erreicht, wurde etwas gegen den Rassismus in unserer Gesellschaft bewirkt?
Im gleichen Zeitraum ist der Zuspruch zu den Rechten, einschließlich erklärter Faschisten, dramatisch angewachsen. Michael Brooks hat die Cancel Culture als Geschenk an die Rechten bezeichnet. Eine Machtübernahme von denen, wie in Italien, ist in Deutschland über die nächsten zehn Jahre hinweg nicht auszuschließen.
Mein Einwand gegen die Cancel Culture ist etwas anders, dass es nicht dazu geeignet ist, die Überzeugungen von Menschen zu ändern. Der Konditor, der nach Protesten die Mohrentorte umbenennt, wird es in gleicher Weise unterlassen, für den Verkauf jemanden mit dunkler Hautfarbe einzustellen, weil es dafür den Shitstorm von einer anderen Gruppe der Kundschaft geben würde.
Hinzu kommen grundsätzliche Erwägungen, ich stamme aus einer Generation, die unter anderem auch gegen die Existenz von Tabuwörtern rebelliert und sich immer sehr für die freie Rede eingesetzt hat. Eine veränderte Sprache muss sich auf der Grundlage von veränderten Einstellungen entwickeln. Wenn wir darauf vertrauen, dass etwas richtig ist, dann können wir auch darauf vertrauen, dass es sich ohne Gewalt durchsetzen wird. Die Cancel Culture hat daran aber kein Interesse, weil es stattdessen um die Kontrolle von sozialen Bewegungen geht, um Definitionsmacht und Einflussnahme.
Was soll man gegen die AFD tun? Da gibt es doch schon reichlich Vorschläge. Das Problem ist, dass nichts davon bisher ausgereicht hat. Es gibt immer wieder Anlässe für Demonstrationen, die man wahrnehmen sollte. Es gibt auch - leider - zunehmend Situationen im Alltag mit denen man konfrontiert wird, wo Leute irgendwelche Sprüche über Ausländer machen, die angeblich nur hierher kommen, um Sozialhilfe zu kassieren. Da gilt die Regel, kurz zeigen, dass das nicht unwidersprochen bleibt, aber nicht auf sinnlose Diskussionen einlassen. Falls es sich um jemanden im engeren Bekanntenkreis handelt, zeigen, dass man deren Besorgnis/Ärger/Frust ernst nimmt, dass man aber nicht auf der Grundlage der Propagandalügen der Nazis darüber reden möchte, sondern dass man der Gegenseite hilft auch ein paar solidere Fakten zur Untermauerung von deren Position zu finden, was zunächst einmal ein Zugeständnis ist, das gegen den Strich geht, aber die Möglichkeit eröffnet, dass eine zementierte Meinung allmählich relativiert wird und sich auch wieder ändern kann.
Gegen die AFD zu sein ist - auch bei unzufriedenstellenden Erfolgsaussichten - noch relativ einfach. Aber was können wir gegen BSW und FDP tun? Und eigentlich auch gegen alle anderen Parteien...
Wie kommst Du darauf, ich wäre nicht gegen Kapitalismus? In den 1970ern habe ich mit ein paar anderen Leuten zusammen die FAU gegründet, die sich ganz gut entwickelt hat. Wenn alle sich anschließen, schaffen wir den Kapitalismus ab. Einstweilen können wir immerhin für Menschen mit marginalisierten Jobs eintreten, die sonst niemanden haben. Auf der Webseite werden einige der Aktionen beschrieben.
Bei Doctor Who wurde der Kapitalismus in "Oxygen" abgeschafft und der Hinweis auf den neuen Fehler, der danach begangen wurde, war offensichtlich eine Anspielung auf die Versklavung der Ood:
"But as far as I remember,
there's a successful rebellion six months later.
Corporate dominance in space is history,
and that about wraps it for capitalism. Yay!
Then the human race finds a whole new mistake..."
Als Gleichnis zum heutigen Alltagsrassismus funktioniert "Dot and Bubble" sehr gut. Würde das den Maßstäben von Michael Brooks genügen? Nein. Es wird ja kein Zusammenhang hergestellt zu der historischen Entwicklung, die diesen Rassismus hervorgebracht hat. Wir erfahren auch nichts über die ökonomischen Hintergründe. Uns bleibt nur die Möglichkeit, uns moralisch zu empören, also genau das, was Michael Brooks bemängelt hat. Während es für mich genau in dieser Weise in "Dot and Bubble" ebenso wie in "Rosa" gut und richtig genug ist, weil es sich um eine reine Unterhaltungsserie handelt, deren Aufgabe nicht darin besteht, stellvertretend für uns den Widerstand gegen Rassismus zu organisieren. Das müssen wir in unserem Alltagsleben gefälligst selbst tun.
Auf der Ebene der Science Fiction werden in "Dot and Bubble" die Maßstäbe von Michael Brooks ebenfalls nicht erfüllt. Eine historische Entwicklung wird uns für die Finetimer nicht beschrieben. Sie sind so, weil sie so sind. Auch auf dieser Ebene bleibt für uns nur die moralische Empörung, eine Wokeness die rein "performative" ist, weil sie keine Konsequenzen hat und nichts dadurch verändert wird.
Auf der Ebene der Science Fiction von "Dot and Bubble" haben wir hier bisher vor allem die Plotlöcher diskutiert. Ich will noch auf einen weiteren sehr problematischen Aspekt hinweisen. Was würden wir von einem Spielfilm halten, der zeigt, wie am Ende des 2. Weltkrieges schwarze US-Soldaten eine Gruppe Juden aus aus einem KZ befreien. Und dann bekommen wir mit, wie einige von denen Bemerkungen machen, die als abwertend gegenüber der Hautfarbe ihrer Retter gewertet werden können. Und der Regisseur bestätigt dann in einem Interview, dass diese Interpretation von ihm beabsichtigt war.
Die Finetimer sind Opfer eines gigantischen Holocaust geworden. Die Künstliche Intelligenz, die die technischen Anlagen steuert, hat aus rassistischen Motiven heraus ethnische Säuberungen gegen die gesamte humanoide Bevölkerung durchgeführt. Aber damit sollen wir uns nicht auseinandersetzen, alles, was wir nach Wunsch von RTD bemerken sollen, ist, dass die Finetimer Vorbehalte gegen die Hautfarbe des Doctors haben.
Und ganz dazu passend vergießt der Doctor ein paar Tränen, weil er von den Finetimern zurückgewiesen wird. Nicht etwa, weil gerade Milliarden Lebewesen umgebracht wurden.
Radioactive Man
ps: Warum "Emma" in Gänsefüßchen? Das war lediglich eine Bezeichnung, die ausschließlich in einer bestimmten Phase für dieses Forum gewählt wurde und die nicht mehr aktuell ist. Er/sie definiert sich nicht mehr über Queerness sondern nur noch über die politische Einstellung. Welches Pronomen jetzt bevorzugt wird, habe ich nicht gefragt, weil das ihre/seine Privatsache ist. Dem optischen Eindsruck nach ist sie wieder er.
pps: Es gibt vom Kapitalismus kein Entkommen, im Internet für nur 31,35 das Michael Brooks "Sei rücksichtslos, sei freundlich"-Funktionsshirt für Wanderungen, Fitness und vieles mehr.
ppps: Ein Zufallstreffer, Michael Brooks - "The Anarchy of Science".